
Gedanken eines Wendekinds
Ich bin 1991 geboren und höre sehr oft: „Du hast nicht in der DDR gelebt, du weißt gar nicht, wie das war!“ oder „Du kennst nur den Luxus aus dem Westen!“.
Und ja, zum Teil stimmt das auch. 1991 war Deutschland wieder vereint, zumindest offiziell.
In den Gedanken der Menschen lebten die Erfahrungen und Erinnerungen aus der DDRZeit weiter. Meine Eltern wuchsen in der DDR auf und viele Gewohnheiten habe ich bereits in frühen Jahren erkennen dürfen.
Ich wuchs in einem großen Haus auf und wenn ich etwas aus dem Keller holen sollte, holte ich es aus dem Stasi-Raum. Als Kind habe ich diesen Namen so hingenommen und nicht hinterfragt. Ein Raum, am hinteren Ende des Kellers, winzig und ohne Fenster mit dicken Wänden.
Als damals die ersten Handys auf den Markt kamen, war das für meinen Vater eine große Herausforderung. Nicht, weil er eventuell schon zu alt für diese Art von Technik war, sondern er Angst vor Überwachung hatte. Als die Handys sich immer weiter entwickelten und ich als Teenager höchst begeistert davon war, lehnte mein Vater diese Art von Technik ab und sagte stets, dass wir uns gläsern machen. Ich habe es immer als Geschwätz abgetan aber als Alexa & Co. Erschienen, wusste ich, dass er Recht hatte. Dazu später mehr.
Wenn es dann am Anfang der Woche daran war den Kühlschrank zu füllen, rief Mama: „Anziehen, wir fahren zum Konsum!“ Und das natürlich mit dem Fahrrad ans andere Ende des Dorfes. Ich erinnere mich noch sehr gut. Es war für mich immer ein kleines Highlight. Vor diesem kleinen Gebäude hingen an einem Metallaufsteller immer tolle kleine Spielzeuge. Dinos, kleine Plüschis – heute würde man es als Schnickschnack bezeichnen. Im Inneren traf man immer liebe und bekannte Gesichter, aus deren Mund immer kam: „Man, ist die aber groß geworden!“. Nach ein paar lieben Worten ging der kleine aber feine Einkauf weiter. Jeder grüßte jeden und das nicht, weil man alle kannte, sondern weil es in der Dorfgemeinschaft einfach so war.
Auf dem Rückweg kamen wir am Getränkestützpunkt vorbei und wenn ich lieb war, gab es für 1 DM eine bunte Tüte mit den leckersten Gummitierchen.
Abends laß Mama uns dann die Geschichten aus dem Struwelpeterbuch vor. Geschichten, die uns auf harsche Art und Weise lehrten, was richtig und was falsch ist. Der Daumenlutscher, der nicht auf seine Mama hören wollte und dem dann der Daumen abgeschnitten wurde. Oder auch Max & Moritz, die nur Unsinn im Kopf hatten.
Zu Weihnachten hatten wir immer die tollsten Geschenke unter dem Baum. Das auch dank meiner Tante, die früh in den Westen gegangen war und immer die neuesten und schönsten Spielzeuge mitbrachte. Hier im „Osten“ gab es so etwas einfach nicht.
Als sich Super RTL und somit auch die Konsum gesteuerten Werbungen etablierten, sahen wir Spielzeuge, die schöner nicht hätten sein können. Puppen, die sich bewegten, bunte und fetzige Autos, Brettspiele, die unsere bei weitem in den Schatten stellten. Und natürlich wollten auch mein älterer Bruder und ich am liebsten alles davon haben.
Versteht mich nicht falsch, meine Eltern haben immer versucht alles möglich zu machen, trotz dem das meine Mama nicht immer arbeitete, weil auch damals schon Care Arbeit groß geschrieben wurde. Jedoch hat sie nie vom Staat abhängig sein wollen. Also war mein Vater der Verdiener und meine Mama verdiente dann später, als wir in der Schule waren, ihren Teil dazu.
Ich erinnere mich als die Puppe Baby Annabell in der Werbung erschien. Eine süße Puppe, die atmete, sich bewegte und einfach irgendwie toll war. Ich habe sie mir so sehr gewünscht, jedoch bekam ich sie nicht. Das lag jedoch nicht daran, dass meine Eltern kein Geld hatten. Schlichtweg lag es daran, dass sie im Osten einfach nicht zu bekommen war. Und dann, zu meinem 30. Geburtstag, lag sie auf meinem Geschenketisch. Meine Mama erinnerte sich so gut an ihr trauriges Kind und machte ihr über 20 Jahre danach das Geschenk, nach dem sie sich so lange gesehnt hatte.
Als Kinder wuchsen wir teilweise bei unseren Omas auf. Mama und Papa hatten keine 6 Wochen Ferien und mussten arbeiten. Also ging es ab zur Oma. Ich liebte es. Meine Oma war schwer sehbehindert, sodass sie immer da war, weil sie nicht arbeiten konnte. Auf ihrem Hof waren allerhand Tiere – Hühner, Enten, Gänse, Hunde und und und. Und ich liebte Tiere. Eine Brutmaschine aus den 40er Jahren brütete die kleinen Kükchen aus und ich saß davor mit meinem Onkel und beobachtete, wie sie das Licht der Welt erblickten.
Bei meiner Oma gab es damals keinen Fernseher aber das störte uns nicht im geringsten. Wir erzählten uns bis spät in die Nacht Geschichten, Oma sang uns auch als wir schon größer waren Lieder zum Einschlafen vor.
Als wir dann größer waren, haben wir unser Geld selbst verdienen können. In den Sommerferien meldete mein Papa uns in der Firma zur Ferienarbeit an, in der er auch schon seit seiner Ausbildung arbeitete. Eine große Firma, die Weichen herstellt. Zwei Wochen hieß es dann Gartenarbeit, 8 Stunden am Tag, teilweise körperlich anstrengende Arbeit. Aber nach den zwei Wochen ging es dann ins Büro und wir holten uns unsere wohlverdienten 300€ ab. Damit haben wir uns unbesiegbar gefühlt und die Ferien waren dann geprägt von tollen Ausflügen und Anschaffungen, die wir damit tätigen konnten.
Nach den Ferien ging es wieder in die Schule und dann hieß es: „Ihr müsst eine weitere Sprache neben Englisch wählen!“ Zur Wahl standen Russisch und Französisch. Mein Bruder und auch ich wählten auf Anraten unserer Eltern Russisch. Na klar, war das eventuell schwerer. Anderes Alphabet, das R rollen lernen usw. Aber Mama und Papa wuchsen in der sowjetisch geführten DDR auf und hatten im Gedanken, dass wir Russisch viel eher brauchen würden als Französisch. Und tatsächlich bin ich Ihnen sehr dankbar für diesen Rat, denn die russische Sprache ist im Vergleich zum Französischen in großen Teilen des Ostens vertreten. Zudem kann man auch mit Ukrainern, Algeriern, Polen etc kommunizieren, da die Sprachen so ähnlich sind.
Ich weiß noch, dass meine Eltern nicht viel mit Englisch anfangen konnten, da es dieses Unterrichtsfach in der DDR eher selten gab. Meine Mama belegte später einen Abendkurs und lernte das Nötigste Englisch. Mein Papa lernte es durch Film, Fernsehen und auch durch uns.
Unsere Erziehung war bestimmt durch Freiheit, Bildung und vor allem die Äußerung der Meinung und diese auch zu verteidigen. Ich meine mal, in der DDR musstest du die Klappe halten. Unsere Eltern gaben uns also das mit, was sie selbst nicht gehabt haben. Zudem war nach der Wende der Zugriff auf weiterführende Bildung gegeben. Mama war es immer sehr sehr wichtig, dass wir einen guten Schulabschluss machen und danach im Bestfall noch ein Abitur – und ja, mein Bruder und ich bestanden beide das Abitur mit guten Noten und nutzen diesen Bildungsweg für unseren zukünftigen Weg.
Alles in allem war nach dem Mauerfall 1989 nicht sofort alles vereint und gleichberechtigt. Menschen sind Gewohnheitstiere und solche Erinnerungen und Erfahrungen prägen.
Ich bin meinen Eltern unglaublich dankbar, dass sie mich unbewusst Teil davon haben werden lassen. Diese Gewohnheiten haben mich bis heute geprägt. Natürlich war die DDR kein Traumland und es war teilweise sehr sehr schwer, dennoch war nicht alles schlecht.
Die Menschen, die in der DDR aufwuchsen und lebten, sagen bis heute noch: „Sei leiser, die Wände haben Ohren!“ Auch dieser Wortlaut hat sich tief in mein Gedächtnis gebrannt.
Schauen wir einmal zurück:
Die DDR ist bekannt für ihre Überwachung. Wenn Du nicht systemkonform gehandelt hast, warst du ein Staatsfeind. Auch Hollywood und andere Filmemacher bedienten sich dieser Erinnerung und produzierten Filme und Serien in Bezug auf Überwachung und Korruption. Alles, was man damals gesagt hat, konnte und wurde auch gegen einen verwendet. Diesen Spruch kennt ihr bestimmt auch noch und er wird bis heute verwendet.
Als die Wende kam und Deutschland Eins werden sollte, wussten die Ostbürger erst nichts mit ihrer Freiheit anzufangen. Erst hieß es schweigen und lieb sein und plötzlich, von einen Tag auf den anderen erlebten sie eine Freiheit, die sie bis dato nicht kannten. Eine Freiheit, die sie genossen und an ihre Kinder weitergaben.
Heute bin ich 34 Jahre alt und erinnere mich zurück und reflektiere. Diese Reflexion führte mich zu vielen Parallelen.
Wie ist das heute um diese Freiheit bestellt? Um eine Freiheit, für die unsere Eltern gekämpft haben. Im Teenager Alter macht man sich über solche Dinge eher wenig Gedanken aber wenn man selbst Kinder hat und diese schützen will, denkt man dann doch schon eher über das ein oder andere Thema nach.
Im obigen Teil erwähnte ich, dass mein Vater Angst vor der neuen Technik hatte und immer betonte, dass wir uns mit den Handys gläsern machen. Auch Social Media verteufelt er bis heute noch. Natürlich schaut er sich das ein oder andere Video auf TikTok & Co. An, aber dennoch mit einem faden Beigeschmack.
Schauen wir uns die heutige Technik mit dem Hintergrund des Ausspruchs meines Vaters einmal genauer an. Als Smartphones und Tablets auf dem Markt erschienen, posteten Menschen auf der ganzen Welt Einblicke in ihr Leben. Man sah sie im Urlaub, beim
Haushalt machen, beim Sport und auch mal in schwierigen Situationen. Aufgrund von Fotos und Videos kann man dabei genau sehen, wo dieser Mensch sich aufhält und das auch noch in Echtzeit.
Oder gucken wir uns einmal TikTok an. Eine Plattform mit tollen Videos. Jetzt geh doch mal in deine TikTok App und gebe in der Suche „Hundewelpen“ ein, schau dir 20 Videos komplett an, schließe die App komplett und öffne sie dann wieder. Was geschieht mit deinem Feed?
Wir wissen alle, dass man damit den Algorithmus gefüttert hat und von nun an vermehrt Videos über kleine süße Hundewelpen erscheinen.
Aber was ist dieser Algorithmus überhaupt? Und warum weiß mein Smartphone auf einmal, dass ich Videos über Hundewelpen geschaut habe?
Denn schauen wir weiter in unser Handy, abseits der erwähnten TikTok App. Du bekommst plötzlich Werbung zum Thema „Erstausstattung für Hunde“ oder Spiele, wo man sich virtuell um süße Hunde kümmern kann.
Ist schon gruselig, oder? Oder doch nicht, sondern praktisch?
Bezugnehmend auf die DDR und die Überwachung in dieser Zeit ist es nicht nur gruselig, sondern eine Wiederholung.
Oft, viel zu oft, wird über die Bürger im Osten geschimpft. Sie wären arm, dumm und alle Verschwörungstheoretiker. Aber sind sie das denn wirklich? Oder sind sie einfach nur konditioniert?
Denn genau das sind sie! Sie sind konditioniert und haben Überwachung und Spionage bereits in vollem Umfang und mit harter Durchsetzung erlebt. Und nun, über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung haben sie Deja vu´s.
Wir freuen uns alle über den Fortschritt, die Vernetzung und Digitalisierung. Na klar, es macht einiges ziemlich leicht. Essen bestellen über die Lieferando App, Online Banking mit einer Überweisung in Sekunden.
Aber man bedenke, wo Licht ist, ist auch Schatten. In der Lieferando App gibst du Deine vollständige Adresse, Telefonnummer, Name und auch Kontoinformationen an. Ja gut, die Daten sind durch ein Passwort geschützt aber sind sie deswegen wirklich sicher?
Nun gibt es seit geraumer Zeit auch die KI, die künstliche Intelligenz. Für die meisten unglaublich praktisch. Chat GPT schreibt schnell meinen Aufsatz, Gemini redet mit mir, wenn ich mich einsam fühle. Aber hast du schon einmal an den Schatten gedacht?
Du redest mit einer KI, wenn Du dich einsam fühlst. Vor 20 Jahren habe ich meine beste Freundin sehr geschätzt, weil sie mir zuhörte und mir mit Rat und Tat zur Seite stand.
Was macht das also mit uns, wenn wir statt mit unseren Mitmenschen nur noch mit Computern sprechen? Es lässt uns vereinsamen, erkalten und es entfernt uns immer mehr von der Menschlichkeit. Zudem füttern wir mit solchen Infos die KI und diese nutzt deine
Sorgen und deinen Kummer, um sich weiterzuentwickeln. Wenn ein Mensch das tun würde, würden wir ihn barbarisch oder gar schamlos nennen. Aber der KI gestehen wir das zu?
Nun komme ich zu unserer aller Lieblingsapp: WhatsApp. Ja, auch ich liebe diese App, muss ich zugeben.
Jedoch kam mir vor ein paar Tagen ein Gedanke: Alles, was gute Qualität hat, was mich persönlich weiterbringt, was ich dringend benötige, kostet Geld. Sei es eine App, die meinen Menstruationszyklus erfasst oder ein Videoschnittprogramm, mit dem ich die schönsten Erinnerung in ein Video zusammenfassen kann.
Warum also ist WhatsApp kostenlos, wo man damit doch Millionen verdienen könnte? Und schaue man sich mal an, was so eine App kostet: Entwicklung, Design, Aufrechterhaltung, Verbesserung etc. kosten viel Geld.
Also könnte man doch jetzt denken, dass Meta der größte Wohltäter überhaupt ist und uns aus reiner Großherzigkeit und Nächstenliebe diese App kostenlos zur Verfügung stellt, nicht wahr?
Dieses Luftschloss muss ich jetzt aber leider zerstören! Schauen wir mal auf die EUKommissionen: Es wird momentan heiß über die Überwachung von privaten Chats diskutiert. Du schreibst Deinem Liebsten, wie sehr du ihn liebst und dass Du dich auf das gemeinsame Kind freust und zack.... Werbung für Babykleidung auf Deinem Handy.
Verstehst Du, was ich Dir damit sagen möchte? Und verstehst Du nun, warum die ehemaligen DDR-Bürger gegen solch eine Art von „Schutz“ sind?
Genau! Sie haben es alles schon einmal erlebt. Überwachung, die angeblich dem Gemeinwohl diene. Wir werden gläsern, wie mein Vater bis heute noch zu sagen pflegt. Und somit kann ich sehr wohl behaupten, dass mein Vater damals wie heute sehr sehr weise war und ist.
Ein ehemaliger DDR-Bürger, der nie vergessen hat, was damals geschah, der immer an das Geschehene denken muss, wenn es nur um einen Hauch Überwachung geht und der sich mit allen Kräften dagegen währt, diese einst hart erkämpfte Freiheit aufzugeben.
Wenn ihr also das nächste mal auf einer Party ein Gespräch über die „dummen“ Ossis mithört, sprecht gerne über meine Erfahrungen, diskutiert und reflektiert.
Das Wichtigste ist Kommunikation! Ohne diese gibt es Missverständnisse und Hass, woraus Spaltung entsteht. Bevor ihr Menschen verurteilt, lauft einmal in ihren Schuhen, um zu verstehen, warum ein Mensch so handelt. Fragt, was ihn bewegt und wie er zu seinen Ängsten und Sorgen kommt. Nur so können wir wieder EINS werden. Nur so schaffen wir es der Spaltung den Kampf anzusagen und endlich wieder Mensch zu werden.
Madleen Richter
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